Aufzucht von (weibl.) Geschlechtstieren nach Tod der Königin

Hier können Fragen rund um das Thema Ameisenhaltung gestellt werden.

Aufzucht von (weibl.) Geschlechtstieren nach Tod der Königin

Beitragvon nortorn » Donnerstag 1. Oktober 2015, 09:47

Hallöchen,

ich wollte den Wissensbereich nicht mit einer Frage 'verschandeln' und stelle sie deswegen hier im Bereich "Einsteigerfragen..." auch wenn mir bewusst ist dass es sich um ein durchaus komplexes Thema handeln dürfte.

Meine Fragestellungen:

1.

Inwieweit sind Ameisen dazu in der Lage, aus schon vorhandenen Eiern und/oder Larven einer mittlerweile verstorbenen Gyne, weibliche Geschlechtstiere aufzuziehen?

Bei manchen Rhytidoponera sind ja alle? Arbeiterinnen potentielle Königinnen.
Diese Arten, mit ihren Gamergaten, würde ich von der Fragestellung gerne ausschließen.

2.

Ist es möglich dass eine weisellose Kolonie, aus noch vorhandener Brut, Geschlechtstiere aufzieht und sich damit selbst vor dem absterben der Kolonie rettet?

Potentielle Kandidaten hierfür wären meiner Meinung nach z.b. Tetramorium bicarinatum, da sie ja ohnehin Inzest betreiben.
Das ganze wäre natürlich nur möglich wenn die Tiere in der Lage sind Geschlechtstiere aus vorhandener Brut zu produzieren. (siehe Frage 1)

Auch Myrmecina graminicola käme meiner Ansicht nach in Frage.
Vielleicht liegt hier aber auch ein Denkfehler meinerseits vor, mehr dazu weiter unten.
Hier stelle ich die Frage am besten an jemanden der sich eingehend mit die Spezies beschäftigt hat ;)

In "Myrmecina graminicola, eine versteckt lebende Ameise mit ungewöhnlichen Eigenschaften", Buschinger, A., heißt es auf Seite 15:

"Im Frühjahr entweiselte Völker ziehen aus der vorhandenen Brut in demselben, und noch im folgenden Jahr weibliche Puppen auf, als Nachkommen der weggenommenen Königin(nen), danach nur noch Männchen, die sich aus von Arbeiterinnen gelegten Eiern entwickeln."

Link hierzu:
https://archive.org/details/ants_14627

Sind mit 'weibliche Puppen' weibliche Geschlechtstiere gemeint? (Denkfehler?)
Wenn ja, wäre es möglich, dass z.b. Intermorphe im Nest verbleiben und sich später mit den Männchen verpaaren, sprich Inzest betreiben und so die Kolonie vor dem sicheren Tod bewahren?
Ist das ganze vielleicht durch das abwandern junger Königinnen vor dem Schlupf der Männchen ausgeschlossen oder überschneiden sich die Zeiträume der Aufzucht von weiblichen und männlichen Geschlechtstieren?

Ich finde das Thema durchaus interessant.
Leider kam ich bei meinen bisherigen Recherchen zu keiner klaren Antwort.
Im schlechtesten Fall ist beides mit einem klaren Nein zu beantworten und ich habe mir umsonst Gedanken gemacht. :D

Gruß
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Re: Aufzucht von (weiblichen) Geschlechtstieren nach Tod der

Beitragvon Trailandstreet » Donnerstag 1. Oktober 2015, 10:40

Ich kann mich noch erinnern, dass es irgendwo einen Beitrag mit Myrmica rubra gab. Ich weiß aber nicht, ob was draus geworden ist. Hab nichts mehr davon gehört.
Warten wir mal Merkurs Antwort ab.


LG Franz
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Re: Aufzucht von (weiblichen) Geschlechtstieren nach Tod der

Beitragvon Merkur » Donnerstag 1. Oktober 2015, 13:34

Hallo nortorn,

Zu 1.:
"Im Frühjahr entweiselte Völker ziehen aus der vorhandenen Brut in demselben, und noch im folgenden Jahr weibliche Puppen auf, als Nachkommen der weggenommenen Königin(nen), danach nur noch Männchen, die sich aus von Arbeiterinnen gelegten Eiern entwickeln."
Weibliche Puppen sind sowohl die von Arbeiterinnen als auch von weiblichem Geschlechtstieren.

Zu 2.:
„Wenn ja, wäre es möglich, dass z.b. Intermorphe im Nest verbleiben und sich später mit den Männchen verpaaren, sprich Inzest betreiben und so die Kolonie vor dem sicheren Tod bewahren?
Ist das ganze vielleicht durch das abwandern junger Königinnen vor dem Schlupf der Männchen ausgeschlossen oder überschneiden sich die Zeiträume der Aufzucht von weiblichen und männlichen Geschlechtstieren?“
Im Freiland gibt es i. d. R. mehrere Völker derselben Art in der Nähe eines weisellos gewordenen Volkes. Geschlechtstiere entstehen, unabhängig von der Anwesenheit einer Königin, zur „richtigen“ Jahreszeit. Sie verlassen die Nester bei passenden Witterungsbedingungen und verpaaren sich. Auch Intermorphe von M. graminicola paaren sich außerhalb des Nestes und somit nicht notwendigerweise mit Brüdern aus dem eigenen Nest. Sie können anschließend in das eigene Nest zurückkehren und Königin-Funktion übernehmen.

„Potentielle Kandidaten hierfür wären meiner Meinung nach z.b. Tetramorium bicarinatum, da sie ja ohnehin Inzest betreiben.
Das ganze wäre natürlich nur möglich wenn die Tiere in der Lage sind Geschlechtstiere aus vorhandener Brut zu produzieren.“
T. bicarinatum verhält sich darin wie die Pharaoameise: Hochgradig polygyne Völker,die Männchen und Gynen aufziehen. Diese verpaaren sich auch im Nest und vergrößern die Zahl der funktionellen Königinnen (es geht aber auch außerhalb des Nestes).
Bei der Pharaoameise reicht eine kleine Gruppe von ca. 10 Arbeiterinnen mit ein paar Eiern und/oder Larven (von Königinnen abgelegt) für einen neuen Befall: Es sind immer auch unbefruchtete Eier vorhanden, und in Abwesenheit von Königinnen werden Larven zu Männchen und Gynen aufgezogen; Verpaarung im Nest, und schon ist eine neue, komplette Kolonie entstanden.
Ob dies auch bei T. bicarinatum so möglich ist, weiß ich nicht.

Man spricht in der Biologie von „Inzucht“, wenn sich Geschwister oder Halbgeschwister etc. verpaaren. „Inzest“ ist ein Begriff aus der Moral, die wir bei Ameisen nicht annehmen können.
Für solche Fragen ist übrigens das Ameisenwiki gut, wo sie – oft von mir selbst – beantwortet wurden.
Das AWiki ist zurzeit etwas vernachlässigt, u. a. aufgrund von Umtrieben subversiver Elemente, aber der bisherige, umfangreiche Inhalt ist noch weitgehend zutreffend.
http://ameisenwiki.de/index.php/Vermehr ... ei_Ameisen
http://ameisenwiki.de/index.php/Myrmecina_graminicola
http://ameisenwiki.de/index.php/Monomorium_pharaonis
http://ameisenwiki.de/index.php/Tetramorium_bicarinatum

@ Trailandstreet: Bei Myrmica rubra gibt es in dieser Hinsicht zahlreiche Spekulationen in den Foren; gesicherte Erkenntnisse sind mir nicht bekannt. Lediglich die Existenz von Polygynie ist bewiesen, sowie die Anwesenheit junger und älterer begatteter Gynen in den Freilandnestern. Das lässt sich durch Sezieren der Königinnen anhand der Größe ihrer Ovarien ermitteln. Außerdem haben Königinnen, die bereits Eier gelegt haben, sog. Gelbkörper in den Ovariolen.

MfG,
Merkur
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Re: Aufzucht von (weiblichen) Geschlechtstieren nach Tod der

Beitragvon nortorn » Donnerstag 1. Oktober 2015, 19:44

Vielen Dank für diese sehr ausführlichen Informationen!
Das beantwortet meine Fragen restlos und zufriedenstellend.

Gerade im Falle der Pharaonameise kann man also beides mit Ja beantworten.

In Sachen Tetramorium bicarinatum werde ich in naher Zukunft wohl mal ein paar Versuche wagen ob hier auch mit nur ein paar Arbeiterinnen und etwas Brut eine neue Königin herangezogen wird.

Überaus interessant das ganze Thema.
Nochmals danke für die Klärung meiner Fragen.

Gruß
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Re: Aufzucht von (weibl.) Geschlechtstieren nach Tod der Kön

Beitragvon Reber » Freitag 2. Oktober 2015, 16:37

Hallo norton,
danke für die interessante Fragestellung!
Bei der Honigbiene Apis mellifera sind die Arbeitsbienen übrigens in der Lage mittels Fütterung von "Gelée Royale" neue Königinnen heranzuziehen.

Bezüglich Versuchen mit Tetramorium bicarinatum möchte ich dich zur grössten Vorsicht mahnen, die Ameise hat deutliche Kennzeichen invasiver Arten. Ein Ausbruch (auch beim Versand) könnte fatale Konsequenzen haben.
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Das worum du dich bemühst,
möge dir gelingen.“
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Re: Aufzucht von (weibl.) Geschlechtstieren nach Tod der Kön

Beitragvon nortorn » Freitag 2. Oktober 2015, 18:45

Reber hat geschrieben:Bei der Honigbiene Apis mellifera sind die Arbeitsbienen übrigens in der Lage mittels Fütterung von "Gelée Royale" neue Königinnen heranzuziehen.


Das war mir bekannt.
Aus dieser Tatsache resultierte letztendlich auch meine Frage.
Ich halte selbst keine Bienen, habe dieses Verhalten aber erst kürzlich wieder in einer Doku gesehen und mich gefragt ob Ameisen da wohl auch zu in der Lage sind.


Reber hat geschrieben:Bezüglich Versuchen mit Tetramorium bicarinatum möchte ich dich zur grössten Vorsicht mahnen, die Ameise hat deutliche Kennzeichen invasiver Arten. Ein Ausbruch (auch beim Versand) könnte fatale Konsequenzen haben.


Danke.
Hieran habe ich bereits gedacht.
Eine solche Spezies würde ich natürlich nur persönlich abholen.
So oft wie man von zerbrochenen RG's liest werde ich dieses Risiko nicht eingehen.
Zusätzlich wird diese Art in einer leerstehenden, voll gekachelten Waschküche gehalten.
Fenster gibt es keine, es gibt keinen Abfluss im Boden und die Feuerschutztür werde ich mit einer weiteren Gummidichtung abdichten.

Ich plane immer sorgfältig im Vorraus, auch bei nicht riskanten Arten ;)

Gruß
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Re: Aufzucht von (weibl.) Geschlechtstieren nach Tod der Kön

Beitragvon nortorn » Sonntag 4. Oktober 2015, 13:25

Reber hat geschrieben:Bezüglich Versuchen mit Tetramorium bicarinatum möchte ich dich zur grössten Vorsicht mahnen, die Ameise hat deutliche Kennzeichen invasiver Arten. Ein Ausbruch (auch beim Versand) könnte fatale Konsequenzen haben.


Nortorn hat geschrieben:Danke.
Hieran habe ich bereits gedacht.
Eine solche Spezies würde ich natürlich nur persönlich abholen.
So oft wie man von zerbrochenen RG's liest werde ich dieses Risiko nicht eingehen.
Zusätzlich wird diese Art in einer leerstehenden, voll gekachelten Waschküche gehalten.
Fenster gibt es keine, es gibt keinen Abfluss im Boden und die Feuerschutztür werde ich mit einer weiteren Gummidichtung abdichten.


Uff, was für ein grober Schnitzer von mir!
Geistig war ich wohl nicht ganz bei der Sache.
Bei Tetramorium bicarinatum handelt es sich natürlich um eine nicht heimische Art, auch die Belehrung über das invasive Potenzial dieser Art ließ mich nicht darüber stolpern.
Asche auf mein Haupt :D
Wer meine Einstellung zum Handel mit Exoten kennt, dem dürfte klar sein dass die Haltung dieser Art für mich somit ausgeschlossen ist, Doppelmoral ist nämlich nicht so mein Ding.

Eine 'Hobbyforschung' meinerseits bezüglich der oben angesprochenen Punkte wird es also nicht geben.
Diese Art zeigt zudem viele Analogien zur Pharaonameise Monomorium pharaonis
In ausreichend beheizten Gebäuden ist sie bereits nachgewiesen (Tropenhäuser etc.)
Somit kann man hier wohl schon ganz klar von invasiv reden, nicht nur von invasivem Potenzial.
Ich habe (noch) nicht recherchiert ob Tetramorium bicarinatum offiziell als invasive Art gilt oder nicht.
Falls ja, dann dürfte der Handel und die Haltung laut der neuen EU - Verordnung aber ohnehin untersagt sein.
Selbst wenn ich Exoten halten würde, strafbar machen möchte ich mich nicht ;)
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nortorn
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