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Microgyne oder Intermorphe?

BeitragVerfasst: Freitag 30. Mai 2014, 07:36
von Boro
Gestern hat Sohn Roman von einer Bergtour eine interessante Ameise mitgebracht.
Fundort: Karawanken (Kärnten/Österr.), ca. 1600 m Höhe am Rand eines Wanderweges, daneben Wiesen u. ein paar Baumgruppen. Wetter: Wechselnd bewölkt, geschätzte 15°
Ich halte das Tier nicht für eine Microgyne sondern für eine Intermorphe von Formica pratensis. Bei SEIFERT und KUTTER haben wir dazu nichts gefunden.
Allerdings ist die Sache keineswegs sicher: Der Fundort in dieser Höhe ist bei F. pratensis schon fraglich. Warum spaziert dieses Individuum allein in der Gegend herum? Die Färbung passt auf F. pratensis, die Behaarung spricht für eine Arbeiterin der Art. Die Ansatzstellen für Flügel fehlen völlig, der Thorax ist aber gynoform (die Wölbung, das Scutellum ist gut erkennbar, das Metanotum zu erahnen).
Jetzt überlegen wir, ob eine Nestgründung versucht werden soll; wäre ja interessant, was aus dem möglichen Gelege heraukommt. Ich glaube aber nicht, dass ich schon Arbeiterinnenpuppen einer Sklavenart finden kann. In der Regel gründet F. pratensis bei F. rufibarbis od. F. cunicularia, beide Arten gibt es dort oben allem Anschein nach nicht.

Re: Microgyne oder Intermorphe?

BeitragVerfasst: Freitag 30. Mai 2014, 08:41
von Merkur
Hallo Boro,

Das ist wahrscheinlich eine Pseudogyne (= Secretergate), eine bei Waldameisen lokal sogar häufige Erscheinung. Nach dem letzten Stand der Untersuchungen handelt es sich um die Folge einer Viruserkrankung der Speicheldrüsen: [awiki]http://ameisenwiki.de/index.php/Pseudogynen_/_Secretergate_/_Viren[/awiki]

Wäre schön, wenn der Fund mit 1-2 Bildern ins AWiki übernommen werden dürfte!

MfG,
Merkur

Re: Microgyne oder Intermorphe?

BeitragVerfasst: Freitag 4. September 2015, 11:09
von Boro
Wieder Pseudogynen?
Am Rückweg von unseren "C. vagus-Abenteuer" [http://www.ameisenportal.eu/viewtopic.php?f=46&t=1102] haben wir auf einer Stecke von vielleicht 50 m 3 morphologische Sonderformen von Formica s. str. gefunden!
Ort des Geschehens: Waldrandweg (Rotföhre), ausgesprochen xerotherm, auf der anderen Seite unübersehbare Maisfelder; Datum/Zeit: 30.9., ca. 17:30. Wetter: Bewölkt, 31°C
Es gibt Probleme: In unmittelbarer Nähe gibt es kein Waldameisennest, ein Nest v. Formica rufa ist viell. 70 m entfernt. Andere Formica s. str. gibt es hier nicht, auch kein Nest v. Formica pratensis, aber etliche Nester von Raptiformica!
Von der Aktivität des "Schwärmens" her gesehen, hätte ich auf F. pratensis getippt (2. Schwarmzeit im Frühherbst). Nachdem die Tiere ganz offensichtlich keine Flügel hatten, handelt es sich um "Fußgeher". Damit fällt F. pratensis weg. Was treibt zur gleichen Zeit 3 morphologische Sonderformen auf Wanderschaft? Wer weiß, wieviele es noch gegeben hat. Außerdem findet das Schwärmen bei Waldameisen vormittags statt. So etwas ist uns bis jetzt nicht untergekommen.......
Die 3 Tierchen sind zwischen knapp 8 bis zu unter 9 mm lang. Zur Art wage ich diesmal keine Aussage, bestenfalls eine vage Vermutung! Alle Fotos v. Roman Borovsky

Re: Microgyne oder Intermorphe? - Pseudogynen!

BeitragVerfasst: Freitag 4. September 2015, 11:39
von Merkur
Hallo Boro,

Auch in diesen Fällen nehme ich an, dass es sich um Pseudogynen handelt! Die Ausprägung, mehr oder weniger in Richtung Gynenform, hängt wahrscheinlich davon ab, in welchem Alter die Larven mit den Viren infiziert wurden. Die am meisten Gynen-ähnlichen fallen halt auch am meisten auf. Larven werden u. a. mit Speicheldrüsensekret gefüttert (das enthält bestimmte Zucker; untersucht in einer Dissertation in Würzburg, von R. Paulsen, um 1968). Bei den Pseudogynen sind dann wohl infektiöse Viren in dem Sekret enthalten. Die Infektion muss während des Larvenlebens erfolgen, denn bei adulten Ameisen kann sich das Exoskelett nicht mehr verändern. Das Fehlen von Flügeln und entsprechend von Flügelansatzstellen ist typisch für diese Formen, siehe Bilder hier:
http://www.ameisenwiki.de/index.php/Pse ... te_/_Viren

Die Tiere dürften auch kein Schwarmverhalten aufweisen. Baumarkthammer hatte mir im März 2015 einige lebende Pseudogynen von Formica fusca geschickt (insgesamt 13 aus einem Nest, dazu ein paar normale Arbeiterinnen) die ich sezieren konnte. Keine hatte ein Receptaculum seminis, und sie hatten auch jeweils nur zwei bis maximal drei Ovariolen ohne heranwachsende Eizellen. Das waren also lediglich modifizierte Arbeiterinnen.

Was die Artzugehörigkeit anbelangt, so halte auch ich die neuen Funde für Formica pratensis. - Könnte es sein, dass sie aus einem noch jungen und unauffälligen Nest stammen, vielleicht einer Koloniegründung bei einem infizierten Volk von F. fusca? - Da wir es bei Pseudogynen nicht mit einer Geschlechtstier-Form zu tun haben, sondern um Arbeiterinnen mit dank der Infektion aufgetriebenem Thorax, könnten von infizierten Wirtstieren auch sehr frühzeitig Pseudogynen der F. pratensis aufgezogen worden sein!

Es würde sich evtl. lohnen, mal einige F. fusca-Nester am Fundort zu untersuchen (oder andere Serviformica-Nester, so vorhanden). Dazu muss man sie natürlich aufgraben.

MfG,
Merkur

Re: Microgyne oder Intermorphe?

BeitragVerfasst: Freitag 4. September 2015, 13:44
von Boro
Danke Merkur für die Stellungnahme! Formica fusca ist auf diesem über 1 km langen Waldrandweg neben Tetramorium sp. (nebst Strongylognathus) die dominante Art und fast einzige Serviformica sp. Daneben gibt es - wie gesagt - zahlreiche Raptiformica-Nester, nur ein F. cunicularia/ein F. rufibarbis-Nest u. natürlich 2 Polyergus-Nester (eines heuer verschollen, sonst wäre ich nicht so oft dort!) sowie C. vagus, C. ligniperdus. Ich werde in Zukunft besonders auf die fusca-Nester achten, die man oft als Untersteinnester relativ gut beobachten kann. Warum F. fusca in diesem trockenheißen Habitat so häufig ist, kann ich nicht erklären.
L.G.Boro

Pseudogynen: Virus wohl gefährlicher als gedacht!

BeitragVerfasst: Sonntag 26. Februar 2017, 17:23
von Merkur
Aus der Dt. Ameisenschutzwarte erreichte mich eine Nachricht, die Anlass zu gewissen Sorgen gibt.
Ein Mitglied beobachtet seit Jahrzehnten Waldameisenvölker in seiner nächsten Nähe. Darunter ist eines von Formica polyctena, das 1982 gegründet wurde. Bis 2011 hatte sich daraus ein Kolonieverband mit 28 Nestern entwickelt.
Dann ging es bergab: 2014 waren es noch 21 Nester. Dem Mitglied fielen in diesem Jahr erstmals zahlreiche Pseudogynen (= Sekretergaten) am Nest und in der Umgebung auf.
Im Herbst 2016 waren es noch acht Nester, darunter nur zwei wirklich vitale!

So weit bekannt, wird diese Missbildung (Arbeiterinnen haben einen aufgetriebenen Thorax, der an den von Gynen erinnert, sind aber keine Mikrogynen) durch eine Infektion der Speicheldrüsen mit einem Virus verursacht. Die Speicheldrüsen liegen im Thorax, ihr Ausführgang führt in den Mundbereich. Wahrscheinlich durch Abgabe des zuckerhaltigen Nährsekrets der Drüsen an Larven werden diese mit dem Virus infiziert.

Wie bereits früher berichtet (u. a. im Ameisenwiki), sind alle Hügel bauenden Waldameisen betroffen; besonders oft findet man Pseudogynen bei Formica sanguinea, doch kommen sie auch bei Serviformica spp. (insbesondere F. fusca) vor.

Auch wenn man nun nicht 100 % sicher sagen kann, dass diese Erkrankung für den Niedergang der genannten Formica-Kolonie allein verantwortlich ist, so sollte die Beobachtung doch zu ganz besonderer Vorsicht mahnen, wenn man Formica-Völkchen (Raptiformica, Serviformica) erwirbt und hält: Man sollte sie unter keinen Umständen nach draußen „entsorgen“, um nicht eine weitere Ausbreitung des Virus (z. B. über die ja im Freiland häufigen Serviformica-Völker) zu fördern und ansässige Ameisenarten zu schädigen!

Keine ortsfremden Ameisen in die Natur entlassen!!

MfG,
Merkur