Ameisen: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse: DISKUSSIONEN

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Ameisen: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse: DISKUSSIONEN

Beitragvon Merkur » Sonntag 22. Januar 2017, 19:55

Hier starte ich mal einen Diskussionsthread, damit der originale Thread mit den wirklich neuen Erkenntnissen nicht überladen wird. Ich denke, dass man hier auch evtl. zu einem neuen Beitrag passende ältere Forschungsarbeiten referieren sollte.

Bezug dieses Beitrags:
viewtopic.php?f=23&t=367&p=13471#p13471
Navi? Brauchen Ameisen nicht!
http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2017-0 ... ertslaufen
Es geht um die Orientierung bei Ameisen (hier Wüstenameisen, Gattung Cataglyphis) und um deren Möglichkeiten, Landmarken, Entfernungsmessung („Schrittzähler“), Sonnenstand, polarisiertes Himmelslicht usw. zu nutzen um mit schwerer Beute zum Nest zurück zu finden. Beim oft nötigen Rückwärtslauf drehen sie sich kurzfristig um, so dass sie die Richtung zum Nest neu justieren können.

Zur Orientierung der einheimischen Sklavenhalter-Ameise Harpagoxeus sublaevis
Man muss nicht unbedingt in die Wüste gehen, um derartige Untersuchungen zu machen. Mit hinreichend kleinen Ameisen geht das auch im Labor! Der hier vorgestellte Versuch könnte auch von Haltern durchgeführt werden, oder als Schulexperiment. Man muss dazu nicht den schwierig zu erhaltenden Sklavenräuber Harpagoxenus nehmen; es geht auch mit Leptothorax acervorum, etwa beim Eintragen von Futterbröckchen, oder bei einem Nestumzug. Mich hat damals, in meiner Doktorandenzeit, die Lebensweise von Harpagoxenus generell interessiert. Eher als Nebenergebnis konnte ich etwas zur Orientierung der Tiere herausfinden.
(Buschinger, A. (1968): Untersuchungen an Harpagoxenus sublaevis Nyl.(Hymenoptera, Formicidae). III. - Kopula, Koloniegründung, Raubzüge. Insectes Sociaux 15, 89-104.)

Der folgende Bericht (vom Februar 2014) ist noch im Ameisenforum enthalten, wenngleich viele Bilder fehlen. Ich kopiere den (leicht aktualisierten) Abschnitt hier komplett ein.

Ameisenhaltung in den 1960er Jahren: Teil 5 Sklavenraubzug etc.

Zwar habe ich den Titel „Ameisenhaltung in den 1960er Jahren“ gewählt, aber da ich Ameisen eigentlich nur zu Forschungszwecken gehalten habe, wäre auch „Ameisenforschung…“ zutreffend gewesen. Das ließ sich nicht trennen; zumindest für meine Art der Forschung war eine zunehmende Verbesserung der Haltung unumgänglich!

Es war die Blütezeit der Verhaltensforschung (Ethologie), in der Karl von Frisch die Tanzsprache der Honigbienen entdeckte. 1973 hat er zusammen mit Konrad Lorenz und Niko Tinbergen dafür den Nobelpreis erhalten. http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_von_Frisch Nobelpreis 1973
*) Bei Ameisen wurde ebenfalls Prägung nachgewiesen, s. Fußnote.

Klar, dass ich als junger Student bzw. zuvor schon als Schüler mit diesen Entwicklungen konfrontiert wurde, und dass bei meinen Beobachtungen an Ameisen dann auch die Frage nach deren Orientierung aufkam.

Im September 1962 hatte ich bei Prof. Gößwald im Inst. f. Angew. Zoologie der Univ. Würzburg eine Staatsexamensarbeit (für das Lehramt an Gymnasien) begonnen. Das Thema erwies sich als nicht durchführbar, aber es ging um Temnothorax (damals noch Leptothorax), deren überschaubar kleine Völker es mir sofort angetan hatten: Ein ganzes Volk, mit Königin(-nen), auf einer Handfläche! Damit muss doch was anzufangen sein! – Es wurde schließlich eine Doktorarbeit daraus, der noch viele Jahre fruchtbarer Forschung über die Leptothorax-Verwandtschaft folgen sollten.

Bereits im April 1963, anlässlich einer Kongressexkursion nach Nürnberg, fand ich zufällig meine erste Kolonie des Sklavenhalters Harpagoxenus sublaevis (AWiki!). Man wusste damals nicht viel mehr, als dass die Art mit ihren auffälligen Schneidkiefern stets mit einer Wirtsart im Nest gefunden wurde, und man nahm an, dass es sich um einen Sklavenhalter handeln müsse. Bekannt war, dass zwei Königinnenformen existierten, „normale“ Gynomorphe und der Arbeiterin sehr ähnliche Ergatomorphe (heute besser: Intermorphe). Andeutungen von Sklavenraubzug-Verhalten und (nicht sicher interpretierter) Koloniegründung sind in Stitz (1939) erwähnt. – Das musste näher untersucht werden!

15-HS-Arena-365.jpg
Raubzugsarena 50 x 50 cm (urspr. Bild 15)
In eine der schon genannten, mit Gips ausgegossenen Blechwannen (50 x 50 cm) wurde je ein Volk von Harpagoxenus sublaevis und eines von Leptothorax acervorum eingesetzt.
Im gezeigten Beispiel befand sich das Harpagoxenus-Nest links unten, in einem mittels einer Umhüllung aus schwarzem Papier verdunkelten Röhrchen, das an die „Butterschale“ angeschlossen war. Diese diente zunächst als Futterarena. In eine weitere Bohrung der Butterschale wurde ein Stück Plastikschlauch gesteckt, mit einer Öffnung zu der großen Arena.
In die Ecke rechts vorn kam ein Völkchen Leptothorax acervorum in seinem Glasröhrchen-Nest. Direkt durch dessen Stopfen wurde der Zugang zur großen Arena geschaffen, die in der Folge für beide Völker als Futterarena diente (drei Schälchen mit Wasser, Honig und Mehlwurm sind in der Mitte zu sehen).
Über der Blechwanne war in 1 m Höhe eine 1,5 m lange 65W- Leuchtstoffröhre installiert. Lichteinfall vom Fenster her wurde u.a. durch die rechts oben sichtbare Pressspanplatte abgeschirmt.
Neben vielen Details zum Raubzugverhalten lieferten die Versuche Informationen darüber, wie sich Harpagoxenus sublaevis auf seinen Raubzügen orientiert: Duftspur, oder Orientierung nach Landmarken bzw. Sonnenstand?
Da die Tiere meist einzeln agieren und Rekrutierung von Nestgenossinnen mittels Tandemlauf erfolgt, war es bei kleinen Völkern möglich, wesentliche Teile des Raubzugsverhaltens bei einzelnen Individuen zu protokollieren.

16-Hs-Arena-gedreht-366.jpg
Ergebnisse bei Drehung der Arena (urspr. Bild 16)
Bild 16 zeigt das Ergebnis eines Versuchs, in dem gezeigt wird, dass die Tiere sich optisch orientieren. In mehreren Durchgängen, bei denen eventuelle Duftspuren weggewischt oder abgewaschen wurden, waren die Läufe der Ameisen zwischen Sklavenhalter- und Sklavennest nicht gestört.
So wurde die Wanne (Arena) um 90° entgegen dem Uhrzeigersinn gedreht (in dem hier protokollierten Versuch war die Anordnung von H = Harpagoxenus- und L = Leptothorax-Nest, anders als in Bild 15, auf maximale Distanz ausgelegt). Das Ergebnis war eindrucksvoll: Eine mit dem Abtransport von eroberter Brut beschäftigte H.- Arbeiterin lief prompt weiterhin zur rechten unteren Ecke der Arena, wo sie vergebliche Suchschleifen lief und schließlich zurückkehrte. Weitere Drehung der Arena um 90° nach links führte dazu, dass die Sklavenhalterin das Leptothorax-Nest wieder fand (rechte Skizze in Bild 16).

Bemerkenswert ist, dass die (manuell außerhalb der Arena protokollierten) Läufe auf dem Hin- und Rückweg jeweils nicht gerade, sondern leicht gekrümmt sind. Der Grund ist derselbe wie bei Motten, die um eine Laterne kreisen: Natürliche helle Lichtquellen (Sonne, Mond) erscheinen beim Geradeauslauf in denselben Ommatidien, während eine nahe Lichtquelle, hier die Leuchtstoffröhre, scheinbar wandert. Das Ergebnis lässt sich so interpretieren, dass die Tiere keine Duftspuren nutzen, auch optische Landmarken (10 cm hoher Rand der Wanne, Neströhrchen etc.) nicht einbeziehen, sondern sich rein nach dem "Sonnenstand" (Leuchtstoffröhre) orientieren.

Weiterhin scheint die Ameise recht genau zu „wissen“, in welcher Entfernung das Ziel zu suchen ist: In der mittleren Skizze beginnt sie die Suchschleifen im richtigen Abstand. „Schritte zählen“ zur Entfernungsmessung wurde erst 2006 bei Cataglyphis nachgewiesen!

Man konnte in den 1960er Jahren auch mit sehr schlichten Experimenten bereits richtungweisende Antworten auf grundlegende Fragen finden!
Und meine damaligen Versuche können auch zu entsprechenden Beobachtungen bzw. Experimenten im häuslichen Bereich anregen.

Oben in Bild 16 ist übrigens gezeigt, dass der Eingang eines Kunstnestchens (Typ Reagenzglas) möglichst eng gestaltet werden sollte, hier mit einem durch den Stopfen geführten Glasröhrchen. – Wer sich beklagt, dass seine Ameisen nach dem Öffnen des RG den Eingang zubauen, beobachtet nur die Reaktion der Ameisen auf einen ihrer „Ansicht“ nach zu weiten Nesteingang. ;-)

17-Hs-vor-Nesteing.2-375.jpg
Harpagoxenus vor dem Eingang des Wirtsvolkes (Bild 17)
18-Hs-Umzg2--376.jpg
Harpagoxenus trägt eine Sklavin (!) zum neuen Nest (Bild 18)
19-HS-Umzug-Männ.-372.jpg
Harpagoxenus trägt ein H.-Männchen ins neue Nest (Bild 19)
In den Bildern 17 – 19 werden noch ein paar Szenen aus solchen Versuchen gezeigt. Manchmal entschließen sich die Sklavenhalter, ihr eigenes Volk in das eroberte Nest der Sklavenart zu verlegen. Dann „können“ die Sklavenhalter mehr als man denkt:
Bild 17: Eine Harpagoxenus-Arbeiterin vor dem Eingang zum Sklavenhalternest; Bild 18: Sie trägt eine Nestgenossin in der üblichen Myrmicinen-Haltung (über Kopf und Rücken) zum eroberten Nest der Sklavenart; Bild 19: Sogar ein Harpagoxenus-Männchen wird auf diese Weise abtransportiert.

*) Bei der ebenfalls Sklaven haltenden südeuropäischen Chalepoxenus muellerianus (heute:Temnothorax muellerianus) wurde Prägung (imprinting) nachgewiesen. Jungköniginnen, die bei einer „falschen“ Wirtsart aufgewachsen waren, bevorzugten für die Koloniegründung diese gegenüber ihrer natürlichen Wirtsart. Entsprechend verhielten sich Arbeiterinnen („scouts“) bei der Rekrutierung zu Wirtsnestern:
Schumann, R.D., Buschinger, A. 1994: Imprinting effects on host-selection behaviour of colony-founding Chalepoxenus muellerianus (FINZI) females (Hymenoptera, Formicidae). Ethology 97, 33-46.
Schumann, R., Buschinger, A. 1995: Imprinting effects on host-selection behaviour of slave-raiding Chalepoxenus muellerianus (FINZI) workers (Hymenoptera: Formicidae). Ethology 99, 243-251.

MfG,
Merkur
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